Hinrechnen? Kaputtrechnen? Welche Möglichkeiten bieten sich beim Nachweis der Tragfähigkeit im Bauen im Bestand?

Probebelastung

Leider lässt sich die Tragfähigkeit eines Bauteils oder Bauwerks nicht exakt Ausrechnen. Ingenieure gehen immer von Modellen aus, die eine Annäherung an die Realität darstellen und die Modelle sind nur so gut, wie

  1. die Kreativität / die Erfahrung Derjenigen, die ein Modell zu Grunde legen,
  2. der Aufwand, der beim Rechnen betrieben wird und
  3. leider auch oft, wie es dem Rechner aus kaufmännischer Sicht nützlich erscheint. (Ggfs. generiert der Nachweis einer fehlenden Tragfähigkeit eine Abriss- eine Neubauplanung.)

Das sichere Modell im Neubau

Im Neubau lernen wir Modellierungen mit hohen Sicherheiten, die den Rechenaufwand gering halten. Da wird die Stahlbetondecke auf der Wand zum gelenkig gelagerten Bauteil, zum berühmten „Balken auf zwei Stützen“, dem einfachsten rechnerischen statischen Ansatz, gelehrt im 1. Semester des Studiums des Bauingenieurwesens.

Die Annäherung an eine realistische Modellierung

Tatsächlich sehen wir die Gelenke jedoch nicht, die Gelenke sind Annahmen auf der sicheren Seite der Rechnung, in der Realität ist so ein Decken-Wand-Auflager eher recht steif – doch nicht ganz steif – keine Einspannung – es gibt Verdrehungen und Risse – der Ansatz einer Federsteifigkeit kommt der Realität vielleicht am nächsten, doch wie steif ist die Feder?

Das sind die Überlegungen und Fragen, die im Bestand interessieren und damit die klassischen Neubautragwerksplaner von erfahrenen Bestandstragwerksplanern unterscheiden, insbesondere, wenn es darum geht, Bestand zu erhalten und nicht kaputt zu rechnen.

„Das hat doch schon mehr als 100 Jahre gehalten.“

Das ein Gebäude schon lange steht, obwohl wir die Tragfähigkeit heute rechnerisch nicht nachweisen können, kann damit zusammenhängen, dass wir die Tragwirkung noch nicht verstanden, das realistischste Modell noch nicht gefunden haben. Es kann den heutigen Tragwerksplaner ermutigen, einen neuen Nachweisweg zu finden. Der Nachweis, dass ein Gebäude noch steht, heißt jedoch nicht zugleich auch, dass es weiter stehen bleibt. Das Berufen auf das Stehenbleiben oder das Vertrauen in das Alter birgt keine Sicherheit.

Unsere heutigen statischen Nachweise beinhalten üblicherweise Sicherheiten. Sicherheitsansätze können bei genauerer Kenntnis von Einwirkungen und Widerständen / Festigkeiten dem Bestand angepasst werden.

Der Weg zum realistischen statischen Modell

Die Tragfähigkeit vieler Bestandstragwerke lässt sich oft nicht mit einfachen Modellen statisch nachweisen.

Oft werden sie kaputtgerechnet.

Um sie zu erhalten, müssen wir genauer rechnen und Materialqualitäten genauer untersuchen. Hier können tatsächliche Lasten, Rohdichten, Festigkeiten, Elastizitäten, Dehnfähigkeiten und Sprödigkeiten interessant werden. Lasten lassen sich ggfs. reduzieren oder für zukünftige Nutzungen begrenzen.

Am Objekt selbst kann genau geschaut werden, was in der Vergangenheit passiert ist. Gibt es Risse? Verdrehungen? Durchbiegungen? Erkennbares Versagen? Fehlende Verbindungsmittel? All das kann Hinweise auf die Auslastungen und bestehende Lastumlagerungen, ggfs. auch Überlastungen geben. Es muss abgewogen werden, welche Schäden besser erst einmal behoben oder ertüchtigt werden, bevor ein rechnerischer Nachweis des schadhaften Tragwerks versucht wird.

Zudem kann am statischen Modell gefeilt werden. Der Blick in die Geschichte, frühere rechnerische Nachweisarten und das Wissen um frühere Fügearten, das Handwerk, die Umsetzung, verdeckt liegende, zusätzliche Verbindungsmittel hilft.

Moderne Ansätze statischer Nachweise am historischen Bestand werden jungen Bauingenieur*innen an deutschen Hochschulen leider noch zu wenig vermittelt. Es gibt zu wenige Lehrstühle / Vorlesungen / Seminare, die sich mit Bautechnikgeschichte, Construction History, historischen Tragwerken und dem, was wir bereits über sie gelernt haben sowie Tragwerksanalysen im Bestand befassen.

An der Propstei Johannesberg gibt es die Weiterbildung „Tragwerkplaner/in in der Denkmalpflege“, die Wissen zu Nachweisführungen von Gewölben, Gusseisenstützen, Eisenbeton, alten Holztragwerken vermittelt. Auch die Gesellschaft für Bautechnikgeschichte ist ein Treffpunkt für ganz verschiedene Spezialisten und Ingenieure, die im historischen Bestand tätig sind und sich austauschen.

Wenn alles nichts hilft, bleibt der Nachweis durch Versuch – die Probebelastung

Liegt ein Tragwerk vor, das rechnerisch nicht annäherungsweise exakt modelliert und nachgewiesen werden kann, helfen definierte Belastungsversuche / Probebelastungen, das Tragverhalten genauer festzustellen. Wir kennen die Bilder aus der Vergangenheit – die Probebelastungen durch Menschenmassen oder Sandsäcke auf frühen Schalentragwerken oder Brücken, trial and error, ggfs. bis zum Bruch. Das birgt Risiken.

Heute können Probebelastungsrahmen sehr fein gesteuert werden, die Systeme sind rückverankert, Messungen und Belastungen können bei ersten Versagensanzeigen wie Mikrorissen abgebrochen bzw. reduziert werden, Dehnungen / Verformungen werden während der Belastung gemessen, hieraus lassen sich Rückschlüsse auf das Tragverhalten ziehen, die der Realität sehr nahe kommen – hohe Ingenieurkunst und häufiges Hilfsmittel im Bestandserhalt.

Ihnen wird vom Tragwerksplaner gesagt, das Tragwerk kann nicht nachgewiesen werden, es hält nicht mehr und muss abgerissen werden?

Ggfs. hilft es Nachzufragen, ggfs. kann genauer geschaut, gemessen und erfasst werden, um das Bestandstragwerk doch zu erhalten. Es geht nicht darum, es hinzurechnen. Aber zu oft wird etwas kaputtgerechnet, was noch nicht kaputt ist.

Ingenieure haben eine reiche Palette an Methoden, Nachweiswegen und Modellen. Ingenieure können kreativ sein. Ggfs. wird der statische Nachweis dann etwas teurer, dafür kann das Bauwerk aber auch erhalten werden, weitergenutzt werden, Ressourcen geschont werden.

Fragen Sie bei Ihren im Bestand erfahrenen Tragwerksplaner*innen nach!